Wachstum

„Wachstum ist nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles nichts“. Der betagte Ausspruch des ehemaligen Wirtschaftsministers Karl Schiller verdeutlicht, welchen Stellenwert ein möglichst hohes Wachstum für die Politik hat. Zwar stehen zumeist andere Ziele als eine bloße Steigerung der Wirtschaftskraft im Vordergrund. Doch zahlreiche Vorhaben auf der politischen Agenda erscheinen ohne Wachstum kaum umsetzbar. Ob es nun um neue Arbeitsplätze, die Sicherung des Rentenniveaus, den Klimaschutz oder den Schuldenabbau geht: Wirtschaftswachstum wird als Grundvoraussetzung für die Erreichbarkeit vieler Ziele gesehen. Und weil dieser Logik folgend tatsächlich ohne Wachstum alles nichts ist, jedes Zehntelprozent an Zuwachs hingegen neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, gilt die Höhe des Wachstums als wichtiger Gradmesser einer erfolgreichen Politik. Zwar wird diese Ausrichtung bereits seit einigen Jahrzehnten unter Verweis auf die ökologischen und gesellschaftlichen Kosten infrage gestellt. Ein grundlegender Kurswechsel blieb allerdings bisher aus: Zu weitreichend und zu unkalkulierbar erscheinen die Konsequenzen eines Abrückens vom Wachstumsziel, als dass es ernsthaft in Betracht gezogen würde. Das IWS hat sich in seiner Arbeit weniger mit den Vor- und Nachteilen dieses Ziels selbst beschäftigt, sondern  die wohl wichtigste dem Wachstumsversprechen zugrunde liegende Annahme hinterfragt: Die Annahme, dass Volkswirtschaften typischerweise exponentiell wachsen.

Warum die Fokussierung auf die Wachstumsraten zu falschen Schlüssen führt

Um den Zustand einer Volkswirtschaft zu beschreiben, wird häufig als erstes die Höhe der Wachstumsraten herangezogen. Dabei wird der Begriff des Wachstums oftmals nicht in seinem streng wirtschaftswissenschaftlichen Sinne, sondern als Synonym für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes gebraucht. Doch die Wirtschaftskraft wird – trotz diverser Kritik daran – in erster Linie mittels des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gemessen. Dessen Höhe bildet den Wert aller Güter und Dienstleistungen ab, die in einem Jahr geschaffen werden.1 Das Wirtschaftswachstum hingegen bezeichnet lediglich die Zunahme dieser Leistung. Damit steht das Wirtschaftswachstum zum Bruttoinlandsprodukt in einem ähnlichen Verhältnis wie die Gehaltserhöhung zum Lohn: Eine Gehaltserhöhung zeigt zwar an, dass sich die persönliche finanzielle Situation verbessert hat, doch entscheidend für den individuellen ökonomischen Lebensstandard ist natürlich zunächst einmal die absolute Höhe des Einkommens.

Die starke Fokussierung auf die Höhe des Wachstums lädt daher zu Fehlschlüssen ein. Wenn beispielsweise im Jahr 2011 das deutsche Pro-Kopf-BIP2 ausgehend von knapp 30.500 Euro um 3,3% gewachsen ist, das von Litauen aber von rund 8.900 Euro ausgehend um 6,0%,3 so greift es zu kurz, Litauen deshalb für leistungsstärker zu halten: Zum einen erreicht dessen Pro-Kopf-BIP weniger als ein Drittel des deutschen. Zum anderen ist aber das Wachstum selbst in absoluten Zahlen geringer (534 zu 1.007 Euro pro Einwohner). Bezogen auf das Pro-Kopf-BIP ist der bestehende Rückstand der litauischen Volkswirtschaft somit – den höheren Wachstumsraten zum Trotz – in diesem Jahr sogar noch größer geworden. Der bloße Blick auf das prozentuale Wachstum hat also wenig Aussagekraft, denn bei einem niedrigeren Ausgangswert genügen auch geringere absolute Zuwächse, um vergleichsweise hohe Wachstumsraten zu erreichen. Man spricht daher vom so genannten „Basiseffekt“.

Nicht nur beim Vergleich mit anderen Ländern, sondern auch wenn es um die eigene wirtschaftliche Vergangenheit geht, liegt das Augenmerk zumeist auf dem Wachstum und nicht dem Bruttoinlandsprodukt selbst. Eine Einschätzung lautet daher, die Jahre der wirtschaftlichen Höchstleistung seien vorüber, weil die hohen Wachstumsraten früherer Zeiten nicht mehr erreicht werden.4 Die Tatsache, dass in Deutschland mittlerweile jährlich etwa drei- bis viermal so viele Güter und Dienstleistungen geschaffen werden wie noch in den so genannten Wirtschaftswunderjahren, bleibt bei dieser Gegenüberstellung weitgehend unbeachtet.5

Während das Bruttoinlandsprodukt also in den Hintergrund tritt, sind es meist die Wachstumsraten, die im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Dies ist zwar nicht überraschend, denn Wirtschaftswachstum gilt als „Schlüsselindikator für wirtschaftlichen Erfolg.“6 Doch so verständlich es auch sein mag, Wirtschaftswachstum mehr oder minder mit der Wirtschaftskraft gleichzusetzen, verleitet es zu falschen Schlussfolgerungen. Denn jedes Wirtschaftswachstum – und sei es auch nur ein geringes – ist eine Steigerung der Wirtschaftskraft. Greift man zu deren Beurteilung jedoch auf die Wachstumsraten zurück, erscheint die Wirtschaftsleistung trotz eines Anstiegs schwächer als etwa in früheren Jahren mit mehr Wachstum. Indem man also nicht den Ist-Zustand der Wirtschaftskraft, sondern gerade das Ausmaß ihrer Verbesserung einander gegenüberstellt, kann ein ‚weniger an Mehr‘ als ein ‚Weniger‘ wahrgenommen werden. Fällt dann das Wachstum des laufenden Jahres niedriger aus als das des Vorjahres, so wird dies als Rückgang wahrgenommen – die Wirtschaft ‚schwächelt‘. Anders ausgedrückt: Weil etwas langsamer vorwärts kommt als zuvor, entsteht der Eindruck, es ginge zurück.

Die kontraintuitive Dynamik des ‚wachsenden Wachstums‘

In den 1970er Jahren erklärte der Club of Rome in seiner viel beachteten Studie „Die Grenzen des Wachstums“, weshalb ein fortgesetztes Wirtschaftswachstum unvereinbar sei mit der Endlichkeit der Ressourcen des globalen Ökosystems. Dabei war es den Autoren sehr wichtig, dass ihre Leser verstehen, welcher Natur dieses Wachstums ist. Denn gerade das Unvermögen der Menschen, sich dessen besondere Dynamik vor Augen führen zu können, ermögliche es erst, dass das Wachstumsziel nicht ausreichend hinterfragt werde. Typischerweise, so die Autoren, dächten Menschen nämlich linear. Von einem linearen Wachstum spricht man, wenn zu einem bestimmten Ausgangsbetrag – beispielsweise 100 Euro – ein immer gleich hoher absoluter Betrag – beispielsweise 4 Euro – hinzukommt. Nach einem Jahr beträgt der Betrag dann 104 Euro, im zweiten Jahr 108 Euro und so weiter. Nach 25 Jahren hat sich der Ausgangswert verdoppelt, nach 50 Jahren verdreifacht und nach 75 Jahren vervierfacht. Stellt man diese Entwicklung grafisch dar, so zeigt sich eine Gerade. Bei linearem Wachstum handelt es sich somit um ein stetiges Wachstum.

Anders hingegen beim exponentiellen Wachstum: Für das erste Jahr bleibt es bei einem Ausgangsbetrag von 100 Euro noch gleich, ob nun 4 Euro oder 4% hinzukommen. Doch bereits im zweiten Jahr beginnen die Abweichungen. Der Zuwachs von 4% entspricht nun einem Wert von 4,16 Euro. Im dritten Jahr sind es dann 4,33 Euro, die hinzukommen, im vierten 4,50 Euro und so weiter. Es ist also nicht nur der Gesamtbetrag, sondern es sind die Zuwächse selbst, die immer größer werden. Zu Beginn der Entwicklung sind dabei die Unterschiede zum linearen Wachstum noch gering: Nach 25 Jahren ist der Gesamtbetrag erst zweieinhalb Mal so hoch wie der Ausgangswert. Doch bereits nach 50 Jahren hat sich der Ausgangswert versiebenfacht und in 75 Jahren fast verneunzehnfacht. Je höher dabei die Rate dieses Zuwachses ist und je länger die Entwicklung andauert, desto mehr beschleunigt sich das exponentielle Wachstum. Grafisch dargestellt zeigt sich daher hier keine Gerade, sondern eine immer steiler ansteigende Kurve. Man könnte somit von einem wachsenden Wachstum sprechen.

Die Wachstumskritiker machten darauf aufmerksam, dass es sich bei Wirtschaftswachstum typischerweise um eine exponentielle Entwicklung handele. Dies bedeutet: Je stärker eine Volkswirtschaft durch vorangegangenes Wachstum bereits geworden ist, desto höher fällt (inflationsbereinigt) der neuerliche absolute Zuwachs aus. Um dies an dem Beispiel der deutschen Volkswirtschaft zu verdeutlichen: 1955 lag das deutsche BIP bei knapp 400 Mrd. Euro.7 Eine Zunahme von 3% entsprach damals einem absoluten Zuwachs von 12 Mrd. Euro. Rund fünfzig Jahre später lag das preisbereinigte BIP bei rund 2.000 Mrd. Euro.8 Eine Zunahme von 3% entspricht dann einem absoluten Zuwachs von 60 Mrd. Euro, also dem Fünffachen des Wertes von 1955.

Auch wenn gleichbleibend hohe Wachstumsraten daher den Eindruck von Konstanz erwecken, steigt bei einer exponentiellen Entwicklung die Wirtschaftskraft nicht gleichmäßig an. Vielmehr fallen die absoluten Zuwächse zum BIP jedes Jahr größer aus. Anders ausgedrückt: Um den Eindruck von wirtschaftlicher Kontinuität zu erzeugen, benötigt es eines immer rasanteren wirtschaftlichen Leistungsanstieg. Zusammen mit der wirtschaftlichen Leistung, so nun die Kritik, nehme aber auch die Umweltbelastung exponentiell zu. Daher müsse diese extrem dynamische Entwicklung zwangsläufig in die ökologische Katastrophe führen.9

Was gestern ging, geht morgen auch

Jenseits aller ökologischen Bedenken, ob es fortgesetztes exponentielles Wachstum geben sollte, können Zweifel aufkommen, ob dieses auf Dauer überhaupt möglich ist. Denn schließlich verbergen sich hinter den abstrakten Zahlen des Bruttoinlandsproduktes ganz konkrete Güter und Dienstleistungen, die hergestellt und gekauft werden. Damit es zu einem exponentiellen Wachstum kommt, muss die Menge der produzierten Güter bzw. erbrachten Dienstleistungen immer rascher ansteigen, um dann irgendwann schwindelerregende Größenordnungen zu erreichen. Der Skepsis gegenüber einer solchen Entwicklung wird jedoch die Erfahrung entgegenhalten, dass dies bisher möglich gewesen sei und – gleich bleibend gute Rahmenbedingungen vorausgesetzt – nichts dagegen spricht, die Erfolge der Vergangenheit zu wiederholen. Kurz gesagt: Was gestern ging, geht morgen auch.

Allerdings stellt sich die Frage, ob bei exponentiellem Wachstum sinnvoller Weise davon gesprochen werden kann, Erfolge der Vergangenheit lediglich zu „wiederholen“. Denn wenn konstante Wachstumsraten das Ziel sind, bedeutet dies ja gerade, dass in Zukunft viel höhere absolute Zuwächse zum BIP erreicht werden müssen als in der Vergangenheit. Genau genommen müssen bisherige Erfolge also auch nicht einfach nur wiederholt, sondern ständig übertroffen werden – Rekord muss auf Rekord folgen.

Vor allem aber beruht eine solche Sichtweise, die von einer Fortsetzung des exponentiellen Wachstums ausgeht, auf einer falschen Vorannahme: Was gestern ging, geht morgen auch – doch ging es „gestern“ überhaupt? Um dies zu überprüfen, genügt ein Blick in die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes. Dann nämlich offenbart sich eine Tatsache, die, obwohl sie leicht überprüfbar ist, nach wie vor kaum Beachtung findet:10 Es gab in der Bundesrepublik niemals exponentielles Wirtschaftswachstum. Stattdessen wuchs die deutsche Volkswirtschaft immer nur linear, nämlich in jedem Jahrzehnt um etwa 300 Milliarden Euro.11 Natürlich gab es Konjunkturzyklen, in denen das Wachstum in einigen Jahren etwas über-, in den nächsten Jahren etwas unterdurchschnittlich ausfiel. Doch wie in der Grafik dargestellt, folgen diese Zyklen einem Wachstumspfad, der einer Geraden entspricht. Die Zuwächse sind dabei so konstant, dass man alleine anhand der Daten von 1950 bis 1960 erstaunlich genau das Bruttoinlandsprodukt des Jahres 1990 (vor der Wiedervereinigung) ‚prognostizieren‘ kann, indem man es gewissermaßen einfach mit dem Lineal fortführt.12

Kernaussage - Linear statt exponentiell

Ein deutsches Problem?

Die Grafik zeigt auch, wie sich gemäß früherer Erwartungen das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland hätte entwickeln müssen13 und wie es sich tatsächlich entwickelt hat. Mitte der 1970er Jahre ging man von durchschnittlich erreichbaren Wachstumsraten von rund 4% aus. Diese Erwartung eines exponentiellen Wachstums weicht von der linearen Wirklichkeit im Zeitablauf immer stärker ab. Dabei ist die Abweichung zunächst nicht sehr groß, nimmt dann aber immer schneller zu. Dementsprechend fallen auch Wachstumserwartungen geradezu ‚chronisch‘ falsch aus: Ein Vergleich der Projektionen nach den Finanzplänen des Bundes mit dem tatsächlichen Wachstum ergab, dass die Erwartung in 23 von 26 Projektionen deutlich zu hoch angesetzt gewesen ist.14

Der dauerhafte Widerspruch zwischen Wachstumserwartung und tatsächlichem Wachstumsverlauf in Deutschland wirft die Frage auf, ob es sich bei dem linearen Trend um ein auf Deutschland begrenztes Phänomen handelt. Eine solche Vermutung legen zumindest die hohen Wachstumsraten anderer Länder nahe, die in der öffentlichen Debatte regelmäßig genannt werden. Und tatsächlich weist das Bruttoinlandsprodukt von aufsteigenden Wirtschaftsnationen wie China einen eindeutig exponentiellen Trend auf.15 Allerdings befindet sich China, was die Höhe des Pro-Kopf-BIPs anbelangt, in etwa auf einem Niveau wie es dem Deutschlands um das Jahr 1910 entspricht. Zu diesem Zeitpunkt aber ist auch die deutsche Volkswirtschaft noch exponentiell gewachsen.16

Die bisherigen Analysen des IWS legen die Vermutung nahe, dass exponentielles Wirtschaftswachstum typisch ist für die Anfangsjahre einer industrialisierten Volkswirtschaft, es aber ab einem bestimmten Niveau in ein zwar starkes, aber dennoch nur lineares Wachstum übergeht. Dementsprechend ist der Blick nach China wenig aufschlussreich. Mehr Aussagekraft verspricht der Vergleich mit anderen entwickelten17 Volkswirtschaften. Anhand von Datenmaterial der OECD konnte das IWS zeigen, dass sinkende Wachstumsraten kein typisch deutsches Problem sind. Nur zwei von zwanzig untersuchten Volkswirtschaften, nämlich Großbritannien und – bis vor einigen Jahren – Irland, können über lange Phasen hinweg mit konstanten Wachstumsraten aufwarten. Australien, Norwegen und die Vereinigten Staaten haben zwar einen exponentiellen Wachstumstrend, dennoch sinken auch hier Raten. Ein tendenziell lineares Wachstum hingegen zeigte sich in Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Japan, Kanada, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Schweden, der Schweiz und in Spanien.18

Konstante Wachstumsraten als vermeintlicher Normalzustand

Obwohl also auch bei internationaler Betrachtung lineares Wachstum der Regelfall ist, wird Wirtschaftswachstum bis heute als eine typischerweise exponentielle Entwicklung verstanden.19 Das Ziel eines „stetigen Wachstums“ ist 1967 im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verankert und seitdem nicht angepasst worden.20 Auf der für die Wirtschafts- und Währungspolitik immer bedeutsameren europäischen Ebene wurden regelmäßig entsprechende Vorgaben ausgerufen21und auch gegenwärtig spielt dort das Ziel einer dauerhaften „Rückkehr“ zu höheren Wachstumsraten eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Krise.22

Vierzig Jahr nach den „Grenzen des Wachstums“ scheint dabei allerdings oftmals bereits die Tatsache, dass sich hinter dem Ziel von konstanten Wachstumsraten das Erfordernis einer exponentiellen Entwicklung verbirgt, nicht klar zu sein. Nicht berücksichtigt wird dementsprechend auch, dass schon der Angabe des Wachstums in Prozentraten eine gewisse Erwartungshaltung zugrunde liegt. Wird nämlich eine Veränderung stets in Prozenten dargestellt, so wird damit zugleich eine Vorstellung vom ‚ökonomischen Normalzustand‘ geschaffen.23 Die Wachstumsraten gelten dann als eine Art umgekehrtes ‚Fieberthermometer‘, das Auskunft über den Gesundheitszustand der Volkswirtschaft gibt: Normal ist, wenn die Raten konstant bleiben. Dafür aber müssten die Volkswirtschaften exponentiell wachsen. Wachsen sie hingegen ‚nur‘ linear, so sinken die Raten kontinuierlich und die Entwicklung ist ‚unnormal‘.

Natürlich ist das Muster eines langfristigen Rückgangs der Wachstumsraten weder der Politik noch der Wissenschaft verborgen geblieben. Allerdings haben die meisten Interpretationen dieser Entwicklung (beispielsweise unter Verweis auf Sättigungseffekte oder zu schlechte Standortbedingungen) gemein, dass sie dieses Phänomen für eine erklärungsbedürfte Abweichung vom eigentlichen Normalzustand halten. Obwohl also das gemessene Wachstum bereits seit mehr als fünfzig Jahren sinkt, führte dies bislang nicht zu Zweifeln an der Grundannahme selbst, sondern gibt, wie es beispielsweise in Jahreswirtschaftsberichten formuliert wird, „Anlass zur Besorgnis“ und erfordert entsprechende Gegenmaßnahmen.24 Damit wird der eigentliche Kern des Problems deutlich: Die realitätsferne Annahme eines exponentiellen Wirtschaftswachstums fordert ein Gegensteuern der Politik heraus, die damit einen Normalzustand wiederherstellen will, den es niemals gegeben hat.

Handlungsspielräume zurückgewinnen

Was bedeutet dies nun? Natürlich lässt sich nicht jedes Absinken von Wachstumsraten durch den grundsätzlich linearen Verlauf erklären. Vielmehr beeinflussen kurzfristig vor allem Konjunkturzyklen die konkrete Wachstumshöhe. Dementsprechend sagt die Feststellung, dass der langfristige Wachstumstrend linear ist, noch nichts darüber aus, inwiefern mittels entsprechender politischer Maßnahmen nicht doch günstigere Bedingungen für Wachstum geschaffen werden können. Berücksichtigt werden sollte aber, dass bei einer Fortsetzung des jahrzehntelangen Trends auch künftig die Wachstumsraten weiter zurückgehen werden und damit gewissermaßen auch der ‚wachstumspolitische Spielraum‘ kleiner wird.25

Dennoch richten sich bislang die Anstrengungen der Politik zu aller erst auf die ‚Genesung‘ des ultimativen Problemlösers „Wachstum“.26 Hinter diesem unrealistischen Ziel einer Rückkehr zu dauerhaft höheren Wachstumsraten tritt die Suche nach alternativen Wegen zur Bewältigung zahlreicher gegenwärtiger Herausforderungen immer wieder zurück. Zwar hat sich die wachstumskritische Diskussion in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt, sie erschöpft sich jedoch vielfach in Überlegungen zu neuen Wohlstandsmessungen, einem – wie auch immer definierten – „qualitativen Wachstum“ oder einem völligen Verzicht auf Wachstum.

Eine empirisch fundierte Neubestimmung des tatsächlichen ‚ökonomischen Normalfalls‘ wirft daher nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht zahlreiche Fragen auf und kann die Wachstumsdiskussion ergänzen.27 Vielmehr kann auch und vor allem die Politik von einer veränderten Sicht auf das Wachstumsziel profitieren. Teils wird dies zwar mit der schmerzlichen Erkenntnis verbunden sein, dass der ‚Joker Wachstum‘ höchstwahrscheinlich nicht ziehen wird und dass politische Grundsatzentscheidungen, die diesen fest einkalkulieren, teils korrigiert werden müssen. Dies gilt insbesondere für einige grundlegende Sozialreformen der vergangenen Jahre.28 Wenn aber klar wird, dass sinkende Wachstumsraten nicht das Ergebnis sich verschlechternder und von der Politik zu verantwortender Rahmenbedingungen sein müssen, können sich zugleich auch neue Perspektiven auftun und die Politik verloren gegangene Handlungsspielräume zurückgewinnen. Dann nämlich besteht die Chance, sich von jenem Primärziel zu verabschieden, dem sich bisher so viele Politikbereiche unterordnen müssen, nämlich dem Ziel, ‚endlich‘ wieder bessere Rahmenbedingungen für mehr Wachstum zu schaffen.

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